Menschen mit Charisma haben Ausstrahlung. Sie begeistern und sind oft von einer Schar Anhängern umgeben. Ihnen schlägt viel Empathie entgegen. Was aber, wenn sie diese Empathie nicht erwidern? Was, wenn die charismatische Strahlkraft eher blendet und alles andere und alle anderen in den Schatten stellt? Dann haben wir es oft mit ausgeprägten Narzissten zu tun, deren Grandiosität für all diejenigen, die enger mit ihnen zu tun haben, zur Last, ja zum Leid werden kann.
Von der Liebe zur Sucht
Vor kurzem berichtete mir ein Teilnehmer eines meiner Führungsworkshops vom Seminar eines bekannten Managementberaters, das er zuvor besucht hatte. Die Führungskraft war etwas irritiert, da dieser Mensch im Seminar auf kritische Fragen von Teilnehmern empfindlich reagierte „Ihre Meinung interessiert mich nicht“ und beim Verteilen der Feedbackformulare am Schluss der Veranstaltung klar stellte, dass ihn auch das Feedback zu seinem Seminar nicht interessiere. Unsicherheit? Wohl kaum. Meine Ferndiagnose (nicht ganz unproblematisch, ich weiß): Wir haben es hier mit einer Spezies Mensch zu tun, den man gemeinhin als Narzissten bezeichnet.
Was zeichnet diese Menschengattung aus? Narzissmus wird oft mit Selbstverliebtheit übersetzt. Das trifft es nicht, finde ich. Denn wäre das so schlimm? Selbstliebe ist ja nun keine Störung. Im Gegenteil. Menschen mit Selbstachtung leiden eindeutig weniger als die Selbstverachter. Diejenigen, die sich selbst gegenüber ein hohes Maß an Empathie empfinden, sind daher für ihre Umwelt nicht unbedingt ein Problem. Problematisch wird es erst, wenn dieser gesunde Narzissmus zur Sucht wird. So beschreibt denn der Psychiater Prof. Reinhard Haller den Narzissten auch nicht als selbstverliebt, sondern eben als selbstsüchtig.
Wie äußert sich nun diese Sucht? Haller beschreibt die narzisstische Persönlichkeit mit vier großen „E“:
- Egozentrik
- Empfindlichkeit
- Empathiemangel
- Entwertung anderer
Mimosen und Feedbackjunkies
Echte Narzissten sind Feedbackjunkies. Sie suchen nicht, nein sie gieren nach Bestätigung. Sie engagieren sich, hängen sich rein – immer auf der Suche nach Bestätigung durch andere. Aber dieses Verlangen ist unstillbar. Es ist getragen vor der Illusion, das ständige Einfordern von Anerkennung würde ihnen das verschaffen, was ihnen fehlt – eben das echte Gefühl von Liebe und Empathie. Ein Narzisst, so Haller, liebt niemanden, nicht einmal sich selbst. Das ist das Furchtbare dieses Charakters. Das Selbst des Narzissten ist ein grandioses, nichtiges Selbst, wie Regine Rachow das vor einiger Zeit einem Beitrag so schön beschrieben hat. Das äußere Selbstbild des Narzissten ist die Grandiosität, die fast unübertrefflich Größe („Ich bin einzigartig und Groß.“) Sein inneres Selbstbild ist von latenten, tiefen Selbstzweifeln durchzogen („Ich selbst bin mir nicht genug.“) Das erkennt man unter anderen daran, dass Narzissten keinerlei Kritik dulden. Sie reagieren ungehalten bis aggressiv auf jede Form des Anerkennungsentzugs.
„Du bist entweder für oder gegen mich“, könnte einer der Leitsprüche eines Narzissten lauten. Alles, was den inneren Zweifel nähren könnte, wird gnadenlos bekämpft. Dabei sind andere Narzissten die gefürchtetsten Gegner, denn es kann natürlich nur einen geben, der diese unübertreffliche Einzigartigkeit besitzt. „Einer von uns hier ist zu viel in dieser Stadt“, heißt es schon in Westernklassikern. Wobei für den Narzissten natürlich klar ist, wer dieser eine ist. In meiner beruflichen Laufbahn hatte ich wiederholt die Gelegenheit, einem derartigen Kampf der Giganten beizuwohnen, die sich bis aufs Messer bekämpft haben. Es kann bis zur Paranoia gehen. Einige Narzissten entwickeln einen ausgeprägten Verfolgungswahn bei der Ahndung von Verbrechen der Missachtung der eigenen Persönlichkeit. Unterschiede zwischen Sach- und Beziehungsebene kennt der Narzisst nicht. Das macht auch die Kommunikation mit ihnen extrem schwierig.
Lüge und Paranoia
Narzissten schrecken vor der Lüge nicht zurück. „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ wusste schon Pippi Langstrumpf. Für den Super-Narzissten ist das Programm. Hat er Mist gebaut oder hat eine seiner grandiosen Ideen nicht funktioniert, findet sich immer ein Schuldiger. Die Kunst des Reframing gehört da eher zum harmlosen Handwerkszeug des lupenreinen Narzissten („Ich habe nicht versagt, man hat mir Steine in den Weg gelegt …“). Viel Schlimmer sind die Halbwahrheiten oder Lügen, welche das Leben von Narzissten durchziehen. Jeder Mensch hat eine selektive Wahrnehmung. Das ist normal. Die Wahrnehmung des Narzissten ist aber derart selektiv, dass man glaubt, man sei auf einer anderen Veranstaltung gewesen, wenn man zum Beispiel in Nachhinein eine Besprechung gemeinsam reflektiert.
Narzissten sind Getriebene. Das macht ihre Strahlkraft aus. Sie sind getrieben von einer teilweise unbändigen Energie. Sie sind Macher und Antreiber und daher auch in Führungspositionen nicht selten anzutreffen. Sie haben die mentale Chemie, die ein echter Leader braucht. Und ihr Erfolg macht Narzissten selbst nicht unbedingt zu Leidenden. Insofern sind sie nicht „gestört“, aber sie erzeugen in ihrem Umfeld oft großes Leid. Sie können zu schier unerträglichen Nervensägen werden. Sie halten sich für unermesslich genial, wichtig und unersetzlich. Andere hingegen sind für sie unfähig oder allenfalls nützliche Idioten.
Narzissten als Tarnkappenbomber
Dabei beherrschen Narzissen die Kunst der Tarnung. Natürlich sagt der Narzisst nicht „ich bin großartig“, sondern er benutzt die wir-Form. „Nur wir sind fähig …“, „wir sind die Größten …“. Und alle im Umfeld fühlen sich damit geschmeichelt – nicht realisierend, dass sie gar nicht gemeint sind. Denn wehe, man versucht dem Narzissten auf Augenhöhe zu begegnen. Schon zeigt er einem die eigene Nichtigkeit und Unvollkommenheit. Er fordert Vertrauen und Loyalität, ist aber nicht bereit, beides zu erwidern. Es ist dieser Mangel an Empathie und die Neigung zur Entwertung Anderer, die den Narzissten verrät. Denn dieses Denken und Verhalten des Narzissten ist eine Projektion seines Selbst auf Andere. Es ist eine tiefe Angst vor dem Fall, vor dem Versagen, vor der Zurückweisung, vor der eigenen Nichtigkeit, die auch den Weg zu den Wurzeln dieses Phänomens Narzissmus weist.
Diese Wurzeln weisen meist in die Kindheit zurück. Die, so sagen Psychologen, ist geprägt von fundamentalem Mangel an Empathie durch die Mutter, den Vater oder anderer nahestehender Personen. Es ist das Erleben tiefer Kränkung oder Zurückweisung. Ein Klassiker ist das Muster der käuflichen Zuneigung. „Ich liebe dich nur wenn du …“ Viele Menschen kennen Liebe nur als Lohn für Leistung. Eine grausame Verknüpfung. Und so ist es einem narzisstisch gestörten Menschen auch völlig fremd, dass er um seiner selbst willen geliebt wird („Ohne Leistung bin ich doch nichts wert.“).
Das narzisstische Charakterbild zeigt aber auch, wie wichtig die Paarung von Selbstliebe mit Empathie für eine gesunde psychische Struktur ist. Ohne Empathie wird die Selbstliebe zur Selbstsucht. Ebenso umgekehrt: Ohne Selbstliebe kann Empathie zur Selbstaufgabe oder gar zur Selbstverachtung mutieren. Der Mangel an Empathie eines Narzissten zeigt sich auch in der Unfähigkeit, sich zu entschuldigen. Die Entschuldigung würde als Niederlage, ja als Selbstaufgabe empfunden. Hätte er ein gesundes Gefühl von Selbstachtung und Selbstliebe, würde diese Angst verschwinden. Echte emotionale Intelligenz gibt es nur im Doppelpack: Selbstliebe gepaart mit Empathie. Bei Narzissten nicht zu finden.
Tanz auf dem Vulkan
Wie kann man mit Narzissten umgehen? Wenn Sie bei einem Narzissten all die hier geschilderten Symptome beobachten, rate ich Ihnen eins: Halten sie sich von ihm oder ihr fern. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan. Selbst Therapeuten beschreiben Narzissten als unangenehme Patienten. Der Grund ist sehr einfach: ihr Vermögen zur Selbstreflexion ist sehr begrenzt bis nicht vorhanden. Für den Narzissten ist Selbstreflexion fast gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Zum Schein lässt er sich mit dem Therapeuten auf ein Gespräch ein, wird in der Therapie aber eher zum Besucher, denn zum Patienten.
Der Schlüssel zum Umgang mit weniger ausgeprägten Narzissten findet sich aus meiner Sicht eben in der Paarung von Selbstliebe und Empathie. Zur Selbstliebe gehört das Einfordern von eigener Autonomie und daher das Setzen von klaren Grenzen. Der Vereinnahmung durch einen Narzissten sollten Sie eine Absage erteilen. Sie sollten nicht bloßes Werkzeug seiner Selbstsucht werden. Zeigen sie ihm oder ihr auf der anderen Seite ihre Empathie und Anerkennung. Das wird kein einfaches Unterfangen sein, denn ein Narzisst wird die Abgrenzung wahrscheinlich als Entzug von Empathie interpretieren. Für den Narzissten ist das schwarz-weiß. Es wird dauern, bis er wahrnehmen kann, dass beides nicht nur geht, sondern dass Selbstliebe und Empathie ein Traumpaar sind. Und vielleicht, vielleicht, vielleicht wird die narzisstische Verletzung seiner Kindheit heilen und ein gesundes Maß an Selbstliebe wachsen. „Ich bin einzigartig – andere auch.“ Erst dann gewinnt Charisma seine wahre, positive Kraft.
Literatur:
Ja, Patrick, mit der Chemie haben Sie zweifellos Recht. Der Satz war von mir auch eher ironisch gemeint. Allerdings wird in meiner Wahrnehmung diese Chemie immer noch mit Führungsstärke verwechselt wird. Speziell in Deutschland, wo Hierarchien vielerorts immer noch gut implementiert sind, werden Narzissten in Nadelstreifen als gute Leader empfunden. Und sie führen ja auch.
Das, was Sie an Zerbrechlichkeit bei Narzissten beobachten, ist mir noch nicht begegnet – jedenfalls nicht in Führungspositionen.
Hier übrigens ein, wie ich finde, guter Vortrag von Reinhard Haller zum Thema “Narzissmus-Falle”: https://www.youtube.com/watch?v=mZn7d3aqu0Y