German Angst ist international inzwischen ein geflügeltes Wort. Besonders im englischen Sprachraum haben wir Deutsche uns als Zauderer und Bedenkenträger einen Namen gemacht. Angst vor Katastrophen, Angst vor Fehlern, Angst vor Entscheidungen. Und nun kommt noch die Angst vor Veränderung hinzu. Wie konnte es soweit kommen?
Wenn ich im Ausland mit Menschen über Deutschland rede, dann überwiegt die Bewunderung über unsere Wirtschaftsleistung, den Aufbau eines einst vom Krieg verwüsteten Landes zu einer der Top-Wirtschaftsnationen, die es mit weit bevölkerungssträrkeren Nationen aufnehmen kann. Wenn ich nachfrage, nennt man mir den deutschen Fleiß, unseren Perfektionismus sowie den gut funktionierenden Staat als positiv wahrgenommene Eigenschaften.
Ich bin dann immer wieder etwas beschämt, wenn ich mir anschaue, was wir oft daraus machen:
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- In den 1980er Jahren sahen Teile der damaligen neuen sozialen Bewegungen Europa kurz vor einem Atomkrieg und den deutschen Wald aussterben.
- In der Euro-Krise nach 2010 wurde der wirtschaftliche Absturz Deutschlands an die Wand gemalt – ein Trigger für die Gründung der AfD durch einen Hamburger Wirtschaftsprofessor.
- Nach 2015 wurde vor dem Hintergrund der Massenmigration aus dem mittleren Osten sogar der Untergang des Abendlandes an die Wand gemalt.
- Und jetzt wird das Moster der angeblichen Deindustrialisierung Deutschlands beschworen. Das hören wir aber schon seit über 20 Jahren. Und dennoch ist Deutschland immer noch unter den Top 5 der Industrienationen bei einer hohen Beschäftigungsquote.
Nichts von den Horrorszenarien ist eingetreten. Dennoch fürchtet immer wieder ein großer Teil der Bevölkerung den Absturz. German Angst eben.
Wo kommt das her? Historiker bemühen gern unsere wechselvolle Vergangenheit, in der wir immer wieder von Kriegen heimgesucht wurden oder diese sogar selbst angezettelt haben. Vor allem letzteres haben die Deutschen teuer bezahlt. Das Land lag 1945 in Trümmern. Das prägt. Zukünftig also mit mehr Vorsicht. Keine Abenteuer und keine unnötigen Risiken. Und so trauen wir uns oft zu wenig zu oder reagieren auf mögliche Gefahren panikartig. Manchmal hilfreich, aber zu oft eher ein Hindernis. Der Historiker Frank Biess sagt dazu:
„Wie Hypochonder befürchteten die Deutschen oft das Schlimmste – nur um dann festzustellen, dass die Wirklichkeit weniger schlimm war“.
Wir haben offenbar eine ausgeprägte Neigung, mehr Probleme, Hindernisse und Gefahren zu sehen, als das in vielen anderen Nationen der Fall ist. Wo wir problematisieren, suchen andere schon längst nach Lösungen. Wo wir zweifeln, sind andere mutiger bei Entscheidungen. Wo wir möglichst einhundertprozentige Sicherheit brauchen, geben sich andere mit achtzig oder neunzig Prozent zufrieden – ohne dass die Welt untergeht.
Ob Qualitätsmanagement oder Datenschutz – wir verlieren uns nur zu gern im Detail. Und lassen dabei das große Ganze aus den Augen. Wir diskutieren ewig, und kommen zu oft nicht zu Potte. Die Deutschen als Meister im Zerreden und verschleppen.
Dazu vielleicht paar Beispiele.
Digitalisierung: Schon 1981 hatte die damalige sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt, den flächendeckenden Ausbau mit Glasfaserneztzen beschlossen. Unter Kohl und dem damaligen Postminister Schwarz-Schilling wurde noch bis in die 1990er Jahr dann das gute alte Kupferkabel verlegt. Heute ist Spanien, einst eines der Armenhäuser Europas, in der Fläche zu über 80% mit Glasfaser versorgt. In Deutschland sind es gerade mal 10%.
Bildung: Unser dreigliedriges Schulsystem entstand in den Grundzügen im 18. Jahrhundert, wurde seitdem zwar mehrfach reformiert, aber an eine grundlegende Reform scheitert bis heute an ideologischen Gegensätzen oder versandet in den Gremien der Kultusbürokratie. Obwohl es den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wird und nicht einmal ein Garant für gute Allgemeinbildung ist, wie die PISA-Studien zeigen, scheint es fast unreformierbar.
Wir meinen immer noch, es sei gut, Kinder im Alter von 10 Jahren zu sortieren und mit Wissen zu bombardieren, anstatt Persönlichkeiten zu entwickeln und selbstorganisiertes Lernen zu stärken. Wir füllen Fakten in die Köpfe anstatt fächerübergreifend praxisorientiertes Lernen zu forcieren und Kinder damit damit wachsen zu lassen, wie es zum Beispiel die Montessorischulen erfolgreich praktizieren.
Die wissenschaftlichen Studien dazu sind bekannt – und trotzdem trauen wir uns nicht, Bildung neu aufzustellen. Jeder Versuch wird von zaudernden Entscheidungsträgern und zu oft auch von besorgten Bürgern im Keim erstickt. Und so landen wir im PISA-Ranking im unteren Mittelfeld. Scheitern mit Ansage.
Klimawandel und Energiewende: Schon seit den 1970er Jahren gab es erste Szenarien, die den Anstieg der Temperaturen durch zunehmende Emissionen von CO2 sehr genau prognostizierten. Dass Klimaschutz wichtig ist, finden inzwischen 70% der Bevölkerung. Aber trotz inzwischen unübersehbarer Warnsignale empfinden viele Menschen Klimaschutz eher als Bedrohung als den Klimawandel selbst. Und so stehen wir uns bei der Energiewende ebenso wie bei der Mobilitätswende selbst im Weg.
„Bitte nicht stören!“
Es fehlt der Handlungswille, der echte Mut zur Veränderung. Während in Dänemark Gasheizungen schon seit über zehn Jahren verboten sind und Wärmepumpe selbst im kühlen Norwegen längst zum Heizungsstandard gehören, führen wir in Deutschland darüber eine aufgeheizte, ja teilweise ideologische Debatte. Es ist sogar von „Heizungsideologie“ die Rede. Wahnsinn! Wir belegen in Punkto Ausbau der erneuerbaren Energien weltweit gerade mal Platz 64 und dennoch behaupten einige, Deutschland trüge die Bürde, die Welt zu retten. Nein, wir werden beim retten der Welt längst von anderen Nationen überholt. Wir haben den Schuss nur noch nicht gehört.
„Wir sind Angsthasen geworden“, sagt Moritz Schularick, Ökonom und Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. „Wir schieben da einen Berg an Problemen vor uns her, von der schleppenden Digitalisierung bis zur mangelnden Veränderungs- und Risikobereitschaft.“
Kürzlich erläuterte in einem Interview seine Befunde. Zu lange sind wir auf der Welle des Erfolgs geritten – und das macht veränderungsunwillig. Rechte wie Linke sind inzwischen zu Veränderungsmuffeln geworden. Die einen hängen am Dogma des ausgeglichenen Haushalts und die anderen träumen sich in das Industriezeitalter der 1970er Jahr zurück, als die Gewerkschaften noch horrende Lohnzuwächse durchsetzen konnten und der Staat durch soziale Wohltaten die Schuldenquote und die Inflation in schwindende Höhen trieb.
Aber es gibt auch einige psychologische Erklärungen für den gegenwärtigen Veränderungsfrust.
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- Überforderung durch multiple Krisen: Pandemie, Migration, Ukraine-Krieg und Energiekrise sowie die Inflation. Stress entsteht dann, wenn wir meinen, keine Bewältigungsstrategien zu haben, um Herausforderungen zu begegnen bzw. dem potenziellen Stressor zu entgehen. Dann reagieren Menschen oft mit Aggression, Flucht oder Erstarrung. Noch mehr Veränderung? Bloß nicht! Eine interessante, aber wenig hilfreiche Strategie ist die Negation des Problems. Man bestreitet einfach, dass es ein Problem gibt und entzieht sich damit der Suche nach Lösungen. Diesen Mechanismus habe ich in meinem Buch Change und in einem Blogbeitrag schon beschrieben.
- Streben nach Stabilität und Erhalt des Status Quo. Veränderung wird als belastend empfunden, weil sie in unserem Gehirn Irritation erzeugt. Viele Menschen haben Angst davor, den Anschluss zu verlieren, fürchten um Sicherheit und Lebensstandard. Dieses Phänomen wurde vom Nobelpreisträger Daniel Kahnemann als loss aversion, also Verlustaversion beschrieben. Inzwischen konnte diese Theorie auch empirisch bestätigt werden. Wenn bei Entscheidungen Unsicherheiten oder Risiken eine Rolle spielen, verhalten sich Menschen oft irrational, da sie die Gefahren deutlich höher bewerten als die Chancen. Das bestätigt inzwischen auch die neurobiologische Forschung.
- Bad is stronger than good! Negative Emotionen, schlechte Erfahrungen und negatives Feedback dominieren über positive Emotionen, gute Erfahrungen und positives Feedback. Schon vor über 20 Jahren zeigte eine Studie, dass scheinbar bedrohliches von unserem Gehirn emotional deutlich stärker bewertet wird als angenehmes. Das führt dazu, dass wir zu oft Vermeidungsstrategien anstatt Annäherungsstrategien folgen und der Problemfokus über den Lösungsfokus dominiert. Veränderung scheitert, wenn Menschen Angst vor ihr haben.
Das alles lässt sich auch über die Bedürfnisstruktur von Menschen erklären. Der Neuropsychologe Klaus Grawe hat in seiner Konsistenztheorie das menschliche Bestreben nach innerer Balance beschrieben. Andere, wie der Arzt und Salutogenese-Experte Theodor Dierk Petzold, bezeichnen dieses Zusand als Kohärenz oder auch stimmige Verbundenheit.
Haben wir diesen Zustand erreicht, geht es uns gut, wird dieser Zustand bedroht, geht es uns schlecht. Gerade in Krisensituationen wird unser Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle massiv beeinträchtigt. Dann fehlt die stimmige Verbundenheit. Je komplexer und verworrener und damit potenziell gefährlicher wir eine Situation wahrnehmen, umso mehr verlieren wir die Orientierung oder befürchten gar, dass uns die Kontrolle entgleitet.
Dies wird umso mehr getriggert, wenn Verantwortungsträger und Entscheider nach außen den Eindruck erwecken, dass sie selbst Orientierung und Kontrolle verloren haben. Fatal in jedem sozialen System, von der Familie bis hin zu höchsten staatlichen Gremien. Und wenn dann die politische Elite des Landes auch noch gegeneinander anstatt miteinander arbeitet, nähert sich die Verunsicherung ihrem Höhepunkt. Vertrauen geht verloren, Ärger und sogar Wut breiten sich aus.
Die Gefahr: Je höher der Vertrauensverlust, umso mehr Menschen werden empfänglich für irrationale Sicht- und Handlungsweisen. Sie versinken nur zu oft im Drama-Dreieck, fühlen sich als Opfer, sehen andere als Täter – und suchen händeringend nach Rettern. Letztere entpuppen sich aber allzu oft als geschickte (Falsch-)Spieler in Zeiten der Krise und wittern wie die Hyänen auf Beute. Schuldzuweisungen oder Trivialisierungen komplexer Zusammenhänge bis hin zu Verschwörungstheorien und demagogischer Hetze sind beliebte Strategien, die allerdings nichts bewältigen, sondern Krisen eher verstärken. Wie groß die Gefahr einer derartigen Eskalation ins Irrationale ist, konnte man in den letzten Jahren in den USA erleben. Auch Deutschland hat das im letzten Jahrhundert mit der Nazi-Barbarei erlebt.
Wie kommen wir da raus? Die kurze Antwort lautet: Weiter so, ist keine Option. Ohne Veränderung geht es nicht! Entweder wir stellen uns Krisen und bewältigen sie gemeinsam und konstruktiv oder Krisen überwältigen uns. Dazu brauchen wir aber einen Perspektiven- und Strategiewechsel. Alle Ressourcen dazu haben wir.
Die ausführlichere Antwort alsbald im nächsten Blogbeitrag.