Coaching-Tipp: Digitales Fasten

Handy ausWir haben uns daran gewöhnt so ziemlich überall und jederzeit erreichbar zu sein. Ob über Mobiltelefon, Email, SMS oder soziale Netzwerke. Diese Technologien sind aus der Kommunikation heute kaum noch wegzudenken. Was geschieht aber, wenn wir all die nicht mehr zur Verfügung haben? Ein unfreiwilliger Selbstversuch. Zur Nachahmung aber irgendwie doch empfohlen.

Sind Smartphones eigentlich wasserdicht? Probieren Sie es doch mal aus. Oder besser doch nicht. Ich habe es  probiert. Ja, es war ziemlich unnötig, das Smartphone mit an die Donau zu nehmen. Aber „man“ hat ja schließlich heutzutage sein mobiles Gerät immer dabei. Und ich bin da noch harmlos. Immer mehr Leute schleppen sich mit Tablets ab.  Ob die schwimmen? Jedenfalls lag mein Smartphone plötzlich in der Donau.

Nach der Bergung hat es sogar noch funktioniert. Schnell die Batterie herausnehmen und das Gerät an einen Fachbetrieb schicken. Gedacht, getan. Ein paar Tage später bin ich dann zum Seminar auf Sylt mit Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer gefahren. Mit der Bahn und ohne Smartphone. Dafür aber mit Ultrabook. So ganz ohne mobiles Büro wollte ich denn doch nicht sein. Noch ein paar Emails und Artikel schreiben. Doch wo ist das Netzteil? Natürlich zuhause, denn ein Unglück kommt ja selten allein. Also: Digitale Funkstille für die nächsten Tage. Der Akku reichte noch gerade bis hinter Elmshorn.

Offline-Panik

In Shanghai hatte ich einmal einen Seminarteilnehmer, der schon wenige Minuten nach Abschalten seines Smartphones eine Offline-Panik bekam. Schweißausbrüche, innere Unruhe, Verlassenheitsgefühle. Schlimm. „Ich twittere, also bin ich“, könnte das Credo der digital Natives lauten. Gehöre ich dazu? Nein, zumindest jetzt nicht mehr! Nach der ersten Ernüchterung über den Unplugged-State stellt sich Gelassenheit bei mir ein. Da ist so ein sachtes Gefühl von Leichtigkeit, weil plötzlich all die Bits und Bytes von mir abgefallen sind. Keine Mails, kein Web, kein Facebook. Das Netz hat sich von mir gelöst oder besser gesagt, ich habe mich vom Netz gelöst. Das ist fast so wie das Gefühl, mit dem Schiff  aus dem Hafen zu fahren und das Festland hinter sich zu lassen. Vor einem nur das Meer und ein paar Inseln. Traumhaft!

Dafür hatte ich paar Bücher dabei. Habe ich immer. Aber diesmal hatte ich viel mehr Zeit, die zu lesen. Matthias Varga von Kibed wird später im Seminar sagen, dass wir wahrscheinlich die letzte Generation sind, welche die Qualität dieses Mediums noch zu schätzen weiß. Glaube ich nicht, werde ich dazu sagen. Denn wir essen ja auch noch echtes Gemüse und (abgesehen von den Veggies) auch echtes Fleisch, obwohl es längst Dosennahrung und Analogkäse gibt. Außerdem ist die rein digitale Information, die im Buch steckt, ja nur ein Teil des Vergnügens. Ich kann heute noch die Karl-May-Bücher riechen, die ich mit elf Jahren verschlungen habe. Und fühlen. Das Erlebnis, sich durch fünfhundert Seiten zu arbeiten, kann mir kein Kindle oder iPad ersetzen. Von Karl Marx habe ich noch das schlechte Papier des VEB-Fachbuchverlags (Leipzig) in Erinnerung. Vielleicht auch ein Grund, warum ich mich dann doch nicht für die proletarische Revolution begeistern konnte.

Digitales Fasten

Nun bin ich inzwischen auf Sylt angekommen. Nein, kein Facebook-Posting vom Strand und den tanzenden Wellen unter den Sturmwolken, die fast die Qualität einer Wagner-Oper haben. Im Hotel wird mir gleich ein W-LAN-Zugang angeboten. Früher habe ich danach gefragt. Jetzt komme ich mir vor wie vom anderen Stern. Ich nehme dankend an, denn vielleicht kann ich meinem Notebook ja noch ein bisschen Strom abtrotzen. Das klappt tatsächlich. So als ob die Seeluft ihn wieder aufgetankt hätte. Es reicht aber gerade noch, um ein paar Mails abzurufen. Dann ist Schluss. Endgültig. Digitales Fasten ist angesagt.

Die digitale Welt liegt nun hinter mir und das Meer vor mir. Großartig! Da draußen hinterm Horizont liegt England. Irgendjemand hat mal zynisch gesagt, dass heutzutage nur ein geposteter oder getwitterter Moment ein wirklich gelebter Moment sei. Was für ein Unsinn! Die Magie des Momentes entsteht im Kopf, nicht im Speicher des Handys oder in der Facebook-Cloud.

In meinen Seminaren rede ich gern über Achtsamkeit, über das bewusste Erleben des Momentes, über das Schärfen der Sinne in der Kommunikation. Das hat für mich sehr viel mit Führung und Selbstführung zu tun. Nur wer den Autopiloten ausschaltet, kann wirklich achtsam sein. Das Abtauchen in die virtuelle Welt steht Achtsamkeit entgegen. Denn der virtuellen Welt fehlt die Authentizität und meist auch die Synchronität. Sie ist nie wirklich echt und meist zeitversetzt. Und dennoch scheinen viele diese mittelbare Kommunikation der unmittelbaren vorzuziehen. Immer häufiger beobachte ich Menschen, die gemeinsam im Café sitzen, aber getrennt twittern oder Emailen. Selbst in Meetings wird inzwischen gemailt. Wozu sietze ich dann im Meeting? Seltsam, oder? Da wird die unmittelbare der mittelbaren Kommunikation vorgezogen.

Gut, früher haben wir Briefe geschrieben. Da hatte gab es aber immer noch die Haptik des Papiers und die Handschrift des Absenders. Heute schreiben Leute in Arial oder Verdana. Ohne Haptik und ohne Papierduft. Sozusagen Standard-Authentizität. Können Sie sich an Menschen erinnern, die im Café das kollektive Schreiben von Briefen der Konversation vorgezogen haben? Ich nicht. Zeitunglesen in Gegenwart des Partners war schon das höchste an Ignoranz. Heute regt das keinen mehr auf.

Vom Street View zum Live View

Und das Festhalten von Momenten per Smartphone-Kamera ist auch so ein verzweifelter Versuch, Unmittelbarkeit zu konservieren. Ich fotografiere auch, aber nicht ständig und überall. Google StreetView war ja nur der Anfang. Heute haben wir „Live View“ als Ersatz zum Tagebuch.  Mein Leben als Film. In der alten chinesischen Kaiserstadt Xi’an hatte ich mal das Vergnügen, eine Oper zu genießen – wären da nicht die vielen Smartphones und Tablets vor meiner Nase gewesen, die sich fast verzweifelt bemühten, die Momente zu digitalisieren und einzufrieren. Damit werden wir aber nur noch zu Beobachtern und verlieren die Chance Teilnehmer des Geschehens zu werden. Die digitalen Aufzeichnungen sind dann nur noch ein schaler Abklatsch des Erlebten – oder des Verpassten, um genauer zu sein. Erleben entsteht in der Unmittelbarkeit des Moments, in dem wir mit allen Sinnen wahrnehmen und teilnehmen. Wäre es anders, hätten Konzertsäle und Kinos längst geschlossen und Public Viewing hätte längst seinen Reiz verloren.

Als ich als Jugendlicher zum ersten Mal in Rom war, erklang in einer der großen Kirchen plötzlich ein Choral. Auf den war ich nicht vorbereitet und er war auch nicht angekündigt. Dessen Hall in diesem imposanten Bauwerk hatte etwas wahrlich Göttliches. Es schauderte mir, es ging mir unter die Haut. Ich war gefangen von der Großartigkeit dieses Erlebens. Kein Tablet hätte diesen Moment auch nur annähernd festhalten können. Ganz im Gegenteil, es hätte ihn zerstört.

Steve Jobs hatte die Vision durch Mobile Computing Menschen besser zu verbinden. Das kann es auch. Aber immer häufiger führt es ehr dazu, Menschen zu trennen, Wahrnehmung wird auf 12 Zoll oder weniger reduziert. Der Film „Her“ ist die logische Konsequenz dieses momentanen Trends. Wozu noch virtuellen Kontakt mit realen Personen, wenn auch der virtuelle Kontakt zu virtuellen Personen funktioniert! Leben als grandioser Fake.

Universale Fernbedienung des Lebens

Das Smartphone wird darin zur universalen Fernbedienung unseres Lebens. Wir meinen steuern zu können, dabei werden wir häufig nur selbst gesteuert. „Bing“ – neues Facebook-Posting. „Bing“ – neue Email. Kommunikation wird darin zum Selbstzweck. Sie verbindet nicht mehr oder allenfalls flüchtig. Das Leben wird zu einer Aneinanderreihung von kurzen Flashs. Kein Fokus mehr, keine Konzentration, keine andauernde Leidenschaft mehr. Nur noch Blitzlichter des Lebens. Die kurzen Klicks verschaffen uns kurze Kicks. Stark genug, um unser Dopaminsystem kurzzeitig zu aktivieren, aber zu schwach, um Dinge hervorzubringen, die wirklich unter die Haut gehen. Und die wichtig sind. Wir ersetzen Relevanz durch Nebensächlichkeit, den erlebten Moment durch den aufgezeichneten Moment.

Das folgende Video bringt das auf den Punkt:

Abschalten!

Und nun hätte ich einen ganz einfachen Vorschlag. Nur für eine Woche. Schalten Sie Ihr Smartphone einfach mal aus, wenn Sie im Zug, im Auto im Meeting, im Café oder eben am Strand sitzen. Gewinnen Sie Ihre Selbstführung zurück. Genießen Sie den Moment, betrachten Sie die Menschen um Sie herum, hören Sie das Ensemble der Geräusche um Sie herum und die Melange der Düfte. Und werden Sie zum Teilhaber des Lebens. Reden Sie mit realen Menschen in einer realen Welt.

Nein, dazu Sie müssen Ihr Smartphone nicht ins Wasser werfen. Schalten Sie es einfach nur aus.

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Eine Antwort auf „Coaching-Tipp: Digitales Fasten“

  1. Nehme mein Handy schon aus Erhaltungsgründen nie mit. Es würde also garnicht in die Donau gelangen können u weil i noch nie über einen PC verfügte, hab ich meine Passwörter regelmäßig vergessen. Also war ich ( ausser für wenige Stunden ) schon immer zum Offlinesein gezwungen u bin über den Artikel erfreut.

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