Die Kraft des negativen Denkens

The Power of Negative Thinking
(Quelle: Wall Street Journal, December 7, 2012, 7:26 p.m. ET)

Weihnachtszeit, Zeit der Freude und der Besinnlichkeit, christliche Nächstenliebe allüberall. Ist es nicht so? Um mich herum erlebe ich leider oft genau das Gegenteil: Hektik, Jahresschlusspanik und der Run auf die Geschenke. Aber dann der gute Vorsatz: Im nächsten Jahr wird alles besser. Immer positiv denken. Und nun das: Das Wall Street Journal setzt jetzt auf die Kraft des negativen Denkens.

Die amerikanische Lebensweise zeichnet sich durch einen tiefgreifenden Kulturoptimismus aus. Bisher. „Yes, we can make it!“ Dies hat auch auf Europa abgefärbt. Und das tut speziell uns Deutschen, einem Volk von Bedenkenträgern auch ganz gut, finde ich. Was aber, wenn Menschen reale Zukunftssorgen haben, der Job gefährdet ist oder Beziehungen zu anderen Menschen zerbrechen. Singen wir dann diese Tage ein fröhliches Halleluja und die Welt ist wieder im Reinen?

Gerade die Tage fiel mir ein Artikel aus dem Wall Street Journal ins Auge, der sich mit der Kraft des negativen Denkens befasst: The Power of Negative Thinking. „Wie jetzt?“ dachte ich. Sollen wir jetzt als Pessimisten promovieren? Na, die Leute von der Wallstreet müssen es ja wissen, nach all den Hypes und Crashes der Finanzmärkte. Schließlich ist die Krise ja noch nicht überwunden und vielleicht ist das eine neue Hype zum Ausbremsen der Finanzhaie. Also: Können wir etwas vom negativen Denken lernen?

Ich war skeptisch. Aber Oliver Burkeman, der Autor des Beitrags bricht hier keine Lanze für die notorischen Pessimisten und Schwarzseher,  sondern fordert uns auf, die Augen nicht vor Risiken und unseren Ängsten  zu verschließen und aufzuhören, uns feste (positive) Ziele einzuhämmern, die wir in einer dynamischen Welt allenfalls mit großen Verlusten erreichen könnten. Karriere um jeden Preis fordert eben ihren Preis. Er sagt, es sei allemal besser, uns unseren Ängsten zu stellen, uns diese vor Augen zu halten und ihnen damit die dämonische Kraft des Bedrohlichen zu nehmen, als alle Stoppzeichen und Warnsignale einfach auszublenden, um dann blind ins Verderben zu rasen. Angst wird damit beschreibbar, erlebbar und handhabbar.

Die Welt ist nicht gut. Sie ist aber auch nicht schlecht. Sie ist ebenso voller Chancen, Zuversicht und Erfolgen wie voller Ungewissheit, Unsicherheit und Fehlern. Sie ist so, wie wir sie uns gestalten.

Und ob wir uns diese Welt gut gestalten können, hängt davon ab, wie wir die Herausforderungen unseres Lebens angehen. Hilfreich ist dabei das Vertrauen in uns selbst, aber auch der Blick auf die Risiken. Hilfreich ist aber vor allem die Gewissheit, das trotz möglicher Fehler und Misserfolge alles gut enden kann, wenn wir offen bleiben und mit anderen zusammen Steine aus dem Weg räumen, um daraus keine Mauern, sondern ein Haus zu bauen. Und letztlich ist es ein tiefer Glaube an die Sinnhaftigkeit unseres Tuns. Denn Sinn ist unabhängig davon, wie es ausgeht. Sinn ist das Streben nach etwas Höherem als uns selbst.

Dafür brauchen wir keine Geschenke, sondern Aufmerksamkeit für Andere wie uns selbst. Dafür brauchen wir kein Zeitmanagement, sondern den Sinn für das Wesentliche, dafür brauchen wir keinen Jahresendaktionismus, sondern einen wertschätzenden Blick auf das Erlebte und einen Blick in die Zukunft, in dem wir unsere Ängste ebenso ernst nehmen wie unsere Chancen.

In diesem Sinne wüsche ich Ihnen frohe und besinnliche Festtage und ein Jahr 2013 wie Sie es sich wünschen.

 

Literatur:

Oliver Burkeman (2013): The Antidote: Happiness For People Who Can’t Stand Positive Thinking, Canongate Books, 256 S.

 

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