Fahren Sie mal runter!

Nach und nach reduzierten zunächst der Brief, später das Telefon und nun das Internet Entfernungen auf Null. Und nun glauben wir, dass uns das mit der Zeit ebenso gelänge: Multitasking bis zum Abwinken und Effektivität hochgepuscht, bis der Arzt kommt. Dabei verlieren wir vor allem eins: Freiheit.

Heute las ich einen beachtenswerten Beitrag im Handelsblatt, auf den mich mein Schwager Stephan aufmerksam machte. In dem Aritkel beklagt Sven Prange, dass uns mit der Zeit eine der wichtigsten Ressourcen abhanden käme. Er berichtet von Börsenmaklern, die ihre Rechner direkt in der Börse platzieren und einige Mikrosekunden schneller zu sein als die Konkurrenz und von den Politikern, die in ihren Reden während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zahl der Laute pro Minute im Schnitt um 50 erhöht  haben. Spontan dachte ich: „Vielleicht ist das ja der Grund, dass wir jetzt auch eine latente Finanzkrise haben und wir von Politikerm regiert werden, die sich schwertun, diese Krise zu managen.“ Da helfen superschnelle Rechner und ebensolche Redner nichts.

Zudem scheint mir, dass mit der Zunahme der Kommunikationsfrequenz und –menge die Bedeutung der Information immer mehr absinkt. Wir erleben derzeit die Bagatellisierung von Kommunikation. Bedeutsames geht im Rauschen des Blabla unter und Bedeutungsloses wird vom Boulevard zur Sensation aufgebauscht. Und im Job heißt es: „Schnell, schnell, wir brauchen Ergebnisse.“ Dringlichkeit wird zum Dauerzustand. Aber sind wir heute überhaupt noch in der Lage, vermeintlich Dringendes von Wichtigem zu unterscheiden?

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, als vor etwa 30 Jahren der Personal Computer erst in den Büros und dann später in den Haushalten Einzug nahm. Damit war unter anderem die Hoffnung verbunden, dass wir infolge der höheren Arbeitsproduktivität Zeit gewönnen. Ein Plus für die Freiheit. Scheinbar. In der Tat haben wir heute so viel Freizeit wie noch nie. Aber erhöhte sich damit auch unsere gefühlte, verfügbare Zeit?

Jeder Deutsche hat heutzutage statistisch mehr als ein Mobiltelefon. Klar, wozu haben wir auch zwei Ohren? Mein Händy ist übrigens 6 Jahre alt. Und ich habe nur das eine. Nun sehe ich mich fast genötigt, mir ein Smartphone zuzulegen – natürlich in der Hoffnung, dass mir das mehr „Freiheit“ verschafft. Aber ich ahne schon, dass auch hier wieder genau das Gegenteil geschieht: Weniger disponible Zeit, dafür aber noch besser erreichbar, überall, ständig. Online forever. Mehr Freiheit?

Ist Freiheit nicht auch der Luxus, seine Gedanken mal schweifen zu lassen, zu Träumen, den leicht modirgen Herbstduft einzusaugen und die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Altweibersommers im Gesicht zu spüren – ohne das gleich auf Facebook zu posten? Einfach nur genießen. Oder einfach mal Zeit zum Denken zu haben, um Ideen zu entfalten, die getane Arbeit zu reflektieren, oder um neue Pläne zu schmieden?

Nachdem in Ende des letzten Jahrhunderts die Elektronikwelle die Musik vollkommen beherrschte, landete Eric Clapton in den 1990ern mit seinem Album „Unplugged“ einen Hit. Es war die Sehnsucht nach dem genuinen Sound, der unfrisierten Stimme, den quietschenden Fingern auf den Gitarrenseiten. Ist es nun nicht  an der Zeit, der CMC, der „Constant Multitasking Craziness“ eine Absage zu erteilen, den PC mal runterzufahren, das Händy auszuschalten und das direkte Gespräch zu suchen – zum Kollegen, zum Partner, den Kindern, den Eltern, den Freunden? Mal wieder wahrzunehmen, was sich jenseits der digitalen Information noch an menschlichen Regnungen in der Kommunikation verbirgt? So ganz unplugged?

Mein Kollege Rolf berichtete mir neulich, dass ihm das Händy gestohlen worden sei. „Shit, wie ärgerlich“, sagte ich.  „Nein, sagte er. Was für eine Wohltat, nicht immer erreichbar zu sein! Und wer mir etwas wirklich Wichtiges mitzuteilen hat, findet Wege.“

So, ich fahre meine Kiste jetzt runter. Sie auch?

 

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